top of page
Search

Verkürzte Welt- und Geschichtsbilder

  • Writer: Beat Ammann
    Beat Ammann
  • Mar 17
  • 7 min read

Updated: Apr 7

"Die Hölle existiert"


Geniale Männer wie Washington, Jefferson und Madison führten britische Kolonien in Nordamerika in die Unabhängigkeit, brachten sie in den Vereinigten Staaten zusammen und hielten diese säkular. Sie waren jedoch unvermeidlicherweise beschränkte Kinder ihrer Zeit. In ihrem geistigen Universum war «Man» – wie in «All men are created equal» – ein männliches Wesen weisser Rasse, vorzugsweise eines mit Besitz. Schwarze waren Sklaven, nicht Menschen mit Rechten; Frauen und Ureinwohner Amerikas kamen nicht vor.


«Unbedeutende» Sklaverei

Die auf konservativer Seite häufige Berufung auf die Gründerväter zu politischen Zwecken ist daher insofern gedankenlos, als sie die Sklaverei und anderweitige Rechtlosigkeit eines grossen Teils der Einwohnerschaft zu übersehen pflegt. Diese besondere Art von Blindheit führte etwa dazu, dass Bob McDonnell, der Gouverneur von Virginia – einem Südstaat – 2010 «vergass», aus Anlass eines Jahrestags des Sezessionskriegs die Sklaverei zu erwähnen. Diese sei «unbedeutend» gewesen, sagte er später rechtfertigend, ehe er sich genötigt sah, um Verzeihung zu bitten.

Die Gründerväter für ihre Unterlassungen zu verurteilen, wäre ahistorischer Unsinn; ihre Versäumnisse aber nicht permanent zu reflektieren, heisst, Unrecht zu perpetuieren. Es erwies sich, dass die Gründer die Basis für eine offene Gesellschaft gelegt hatten. Sie erreichten religiöse Toleranz, laut dem Historiker Joseph J. Ellis nicht so sehr aus Prinzip als dazu, die Dominanz einer der vielen Glaubensrichtungen über die anderen und die Nicht-Religiösen zu verhindern. Im Gegensatz zu vielen Revolutionen anderswo frass die amerikanische ihre Kinder nicht – ein Verdienst führender Köpfe, die einen Bürgerkrieg zu verhindern wussten und laut Ellis die Entwicklung in evolutionären Begriffen dachten.

In Amerika sind stets starke Kräfte am Werk, die dezidiert nach rückwärts orientiert sind. Sie sind bei weitem keine Mehrheit, aber dank unerschütterlichem Glauben und guter Organisation sehr tatkräftig. Viele Konservative akzeptieren de facto die offene Gesellschaft nicht. Wo ihre Begehren scheitern, fühlen sie sich ungerecht behandelt. Ihre Gewissheit mag zurückgehen auf das in der Gründerzeit abgelehnte Postulat einer kleinen Minderheit, die Vereinigten Staaten seien als «christliche Nation» zu definieren.


Anspruch auf «Rückholung»

Viele Konservative und Republikaner sind der Überzeugung, man habe ihnen ihr Land weg genommen. Sie geben sich gewiss, eine Art permanent verfolgter Minderheit zu sein. Daher ist die moralisch fordernde Figur des «taking back» ein Leitmotiv: Wir holen uns zurück, was rechtens uns gehört. Als Usurpatoren und als Zersetzer christlicher Lebensart gelten in dieser Weltsicht Säkularisierte, Ungläubige, Schwule und Lesben, die auf gleichen Rechten für alle bestehen; Leute, die Sexualkunde-Unterricht in der Schule befürworten, die ein Verbot der Abtreibung oder die Todesstrafe nicht für das klügste Mittel halten, um Leben zu schützen; Leute, deren Spiritualität im Gegensatz zu vielen konservativen Kleingläubigen von wissenschaftlicher Erkenntnis beflügelt, nicht entzaubert wird. Als Usurpatoren gelten vielen Leuten am rechten Rand auch Schwarze – die Nachkommen der Sklaven.

Das 1973 gefällte Urteil des Obersten Gerichtes, das die Legalität der Abtreibung bestätigte, ist jenes zentrale Ereignis, das die Konservativen umtreibt. Es ist legitim, das Urteil für falsch zu halten und auf eine Revision zu drängen. Doch verabsolutieren viele Abtreibungsgegner ihren Standpunkt und fühlen sich berufen, ihr Anliegen unablässig in jedem Zusammenhang einzubringen. Viele schrecken nicht davor zurück, wenig begüterten Frauen der Möglichkeit zu berauben, sich unentgeltlich beraten und pflegen zu lassen, falls Abtreibung als Option im Angebot ist – selbst dann, wenn die erforderliche Behandlung mit Abtreibung nicht das Geringste zu tun hat.

Die Tea Party ist eines der Sammelbecken jener, die «our country» zurückholen wollen. Ebenso rufen viele zum «taking back our Government» auf. Die Anhänger der Tea Party sind kaum alles unverbesserliche Rassisten, aber ihre einseitige Sicht der Geschichte Amerikas kommt rassistischem Verhalten gleich. «Taking back our Government» hat eine besondere Dissonanz bekommen, seit erstmals ein Schwarzer Präsident der USA geworden ist.

Der Ruf impliziert Illegitimität, besonders wenn er mit den gegen jede Vernunft geschürten Zweifeln an Barack Obamas amerikanischer Staatsbürgerschaft verknüpft ist. Und er blendet wieder aus, dass es fast zweihundert Jahre dauerte, ehe Jeffersons «Man» schwarzer Hautfarbe sein konnte und «trotzdem» alle bürgerlichen Rechte geniesst, wenigstens in der Theorie. Dieses säkulare Versagen weisser, christlicher Eliten müsste patriotischen Stolz eigentlich dämpfen und die Gewissheit der stets behaupteten Sonderstellung der USA in der Weltgeschichte erschüttern.


Biblische Astronomie

Das «taking back» kann sogar Astronomie betreffen. Diese steht dabei für Wissenschaft, verstanden als Irrweg und Hybris des menschlichen Geistes, als Abweichung von der von Gott geoffenbarten Erkenntnis. «Taking back Astronomy» wird im «Creation Museum» in Petersburg, Kentucky, vorgeführt. Das unter konservativen und religiösen Familien populäre Museum will den Beweis führen, dass die Bibel wörtlich zu verstehen sei. Demnach geht aus der Schrift hervor, dass Gott vor rund 6015 Jahren alle Dinge und alle Wesen binnen 6 Tagen schuf. Die Vertreibung aus dem Paradies sei 1000 Jahre später geschehen, und es sei 4350 Jahren her, dass Noah wegen der Sündflut alle Lebewesen in seine Arche packte.

Adam und später Eva lebten laut dieser kindisch-niedlichen Weltsicht mit Dinosauriern und Affen, Trilobiten und Hirschen zusammen, ehe «Korruption» in Form des Bisses in den Apfel vom Baum der Erkenntnis einsetzte. Drogensucht, Pornografie, zwanghaftes Spielen von Video-Games sowie Abtreibung seien Folge davon, dass sich der Mensch von Gott und dessen Wort abgewandt hat. Diese Sektion des Museums ist in bunkerartigen Gängen aus nacktem Beton untergebracht. Viele Exponate kommen in wissenschaftlichem Schein daher. Zwar wird im Rahmen des «Taking back Astronomy» nicht die von der Wissenschaft erhobene Grösse des Universums bestritten, sehr wohl jedoch das Argument, Licht könne nicht Milliarden von Lichtjahren zurückgelegt haben, wenn die Schöpfung erst gerade vor jugendlichen sechs Jahrtausenden geschah.


Zu früh für Inzest

Es ist denkbar, dass die Initiatoren des Museums dessen Botschaft nicht ernst meinen, sondern dieses eher als ein Instrument dazu verstehen, bibelgläubige Leute bei der Stange zu halten, sie gegen säkulare Einflüsse aller Art zu impfen und allfällige Zweifel zu beseitigen. Warum erlaubte es Gott Kain, dessen Schwester heiraten? Da so kurz nach der Schöpfung noch keine genetischen Mutationen geschehen sein konnten, war Kains inzestuöse Verbindung laut der Darstellung im Museum ungefährlich. Die Evolution wird nicht direkt geleugnet: Gott schuf den Ur-Schmetterling, den Ur-Fink und den Ur-Fisch, von dem alle Schmetterlinge, alle Finke und Fische abstammen. Das ist zwar laut aller wissenschaftlichen Einsicht Unsinn, aber clever argumentiert: Das Publikum zeigt sich beeindruckt.

Der «Evangelikale» oder «wiedergeborene Christ» definiert sich durch den Glauben an den Wortlaut der Bibel; diese gilt ihm als «absolute Autorität». Dieser primitive und gefährliche Standpunkt impliziert das Gegenteil einer offenen Gesellschaft. Wie stark die Evangelikalen in den USA sind, lässt sich daran ermessen, dass die Republikanische Partei gegen Exzesse solcher Strömungen nie ein Wort verliert, da sie auf diese Wählerschicht nicht verzichten will. Die marktwirtschaftliche Orientierung der Republikaner bedeutet keineswegs, dass diese im europäischen Sinne Liberale wären.


Das «Recht» der Eindringlinge

Das evangelikale Weltbild kann nur rückwärts gewandt sein, oder vorwärts allenfalls in Erwartung des angeblich reinigenden Weltendes. «Hell is real» (Die Hölle existiert), verkündet eine Tafel an der Autobahn zwischen Columbus und Cincinnati in Ohio, unweit des «Creation Museum». Aufklärung und Humanismus im Erbgut der USA verhinderten nicht die rücksichtslose Vernichtung der Kulturen der Ureinwohner Amerikas – und allzu oft die völkermörderische Vernichtung der Ureinwohner selbst. Deren Weltbild erscheint im Vergleich zu jenem der Evangelikalen als weniger abwegig. Dies ist vor allem im hohen Norden, in Kanada und in Alaska, insofern kaum eine Überraschung, als die prekären Lebensumstände es nicht gestatten, sich in weltfremden Modellen der eigenen Existenz zu verlieren.

Zwar haben christliche Missionare unter Indianern und Ureinwohnern des Nordens manchmal auch das Bewusstsein für Menschen- und Bürgerrechte geweckt, doch überwiegend trachteten sie danach, die einheimische Kultur abzuwürgen. Sie waren erfolgreich. In der politischen Diskussion spielen die Ureinwohner Amerikas in den USA keine Rolle. Es wirkt, als müsste man ins Museum gehen, um auf Respekt und Würdigung zu stossen. Das Museum von Anchorage in Alaska ist eine jener Institutionen, wo fast schmerzlich viele Zeugnisse für deren Überlebenskampf zusammengetragen wurden.

Dieser Überlebenskampf geht weiter. In Alaska gilt es laut der Smithsonian Institution – einer anerkannten Grösse amerikanischer Vergangenheitspflege – als keineswegs sicher, dass die sogenannten Alaska Natives als eigenständige Völker überleben. Viele Sprachen seien bereits verloren. So weiss man, dass seit dem Tod von Mary Smith-Jones, die den Titel «Honorary Chief» trug, niemand mehr Eyak als Muttersprache spricht. Der Name der 2008 gestorbenen Frau ist ein Indiz für das Vorgehen der Missionare: Sie unterdrückten einheimische Namen und hängten Eingeborenen beliebige christliche an.

Indianern und Alaska Natives wurde nicht nur das von ihnen bewohnte und genutzte Land weggenommen, sondern sie waren gemäss dem «Recht» weisser christlicher Männer im Gegensatz zu jedem hergelaufenen Schatzgräber auch nicht befugt, Schürfrechte für Gold oder andere Bodenschätze zu erwerben. Erst acht Jahre später als weissen Eindringlinge gewährte die ferne Regierung der USA den Eingeborenen 1906 das «Recht», staatliches Land zugeteilt zu erhalten – Land, das ihre Vorfahren seit Jahrtausenden genutzt hatten.

Es war den Alaska Natives in Alaska nicht erlaubt, vor Gericht gegen Weisse Zeugnis ablegen. Sie mussten vor Lehrern und Richtern «beweisen», dass sie sich von ihrer Herkunft und den Bräuchen ihrer Vorfahren losgesagt hatten, um ihre Kinder in die Schule zu schicken oder das Wahlrecht zu erhalten. Und ausserhalb des Englischen und des Christentums gab es kein Heil, wurde ihnen eingebleut. Immerhin wurden sie in Alaska nicht, wie sonst in den USA, in Reservate gedrängt, sondern erhielten 1971 als Aktionäre von Korporationen kollektiven Besitz und Nutzen eines Teils des Landes.


Eine wiedergeborene Eingeborene

Diverse Völker des hohen Nordens empfanden Menschen und Tiere als gleichen oder verwandten Ursprungs; die Evolutionslehre gibt ihnen Recht. Sie waren davon überzeugt, dass gejagtes Wild sich erlegen liess, um Menschen das Überleben zu ermöglichen. Daher wurden Tiere geachtet. Jäger der Tr'ondëk Hwëch'in in Yukon im heutigen Kanada waren darum besorgt, keine Spuren zu hinterlassen und die Würde der getöteten Kreatur nicht zu verletzen. Die Tlingit, ursprünglich ein Handel treibendes Volk der Küste im heutigen Südosten Alaskas, warfen nicht genutzte Knochen erlegter Biber ins Wasser, um zu verhindern, dass Hunde darüber herfielen. Die Ureinwohner sahen sich als dem Land zugehörig, das sie nutzten; sie sahen sich nicht als dessen Besitzer. Die weissen Neuankömmlinge vermochten nie zu begreifen, dass ohne eine solche Weltsicht das Überleben nicht möglich gewesen wäre, noch dass dieses Überleben vielleicht gottgefällig war.

«I am a born-again Native», sagt eine Frau in einer Video-Dokumentation im Museum von Anchorage. Laut dieser «wiedergeborenen Eingeborenen» gehen Konzepte des Weltverständnisses der Alaska Natives verloren, wenn man sie Englisch ausdrückt. Paul Ongtooguk, ein Inupiak (Eskimo) beschreibt seine Rückkehr zur eigenen Herkunft so: «Allmählich begann ich, durch den Schleier des Schweigens hindurch zu sehen, der unsere Geschichte und Kultur zudeckte. Und erst ausserhalb der Schule erfuhr ich, dass wir ein mutiges und erfinderisches Volk sind, das unter harschen Umständen ein reichhaltiges Leben zu entwickeln wusste.» Die weissen Kolonisatoren waren in dieser Hinsicht blind und taub.


[2008, Copyright Neue Zürcher Zeitung www.nzz.ch]

 
 
 

Recent Posts

See All
Amerika auf dem Weg in die Autarkie

Trumps Rezepte aus dem vorletzten Jahrhundert    Nun wissen wir endlich, wie hoch die Zölle sein werden, die Präsident Trump erhebt, um...

 
 
 
Make America white again

Böse und Dumme   Früh in meinem beruflichen Leben habe ich gelernt, dass die Aussage: «Schlimmer kann’s nicht werden», falsch ist. Das...

 
 
 

Comments

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating

Copyright 2025 © Beat Ammann - Washington, DC; U.S.A.

office@beatammann.com - Created by Self

and powered by WIX

bottom of page